Was passiert, wenn wir weitermachen wie bisher?
Selbst wenn diese eine Zahl, das BIP, wieder steigt, es der Wirtschaft vermeintlich besser geht, werden Ökosysteme in den nächsten Jahren weiter kollabieren. Zahllose Arten werden verschwinden. Die Erde wird sich immer schneller aufheizen. Gerade in Europa. All das wird enorm teuer. Diese zukünftigen Kosten sind in dem rückwärtsgewandten Indikator nicht zu sehen. Genauso wenig, wie stark die Belastung der natürlichen Systeme dazu führt, dass sie sich unverhältnismäßig verändern. Das sind die Muster von komplexen Systemen, die in den ökonomischen Projektionen aber nicht vorkommen. Das wurde auch gerade von 200 Ökonominnen und Ökonomen in einem Brief an die Europäische Kommission gefordert – wir können nicht weiter mit Modellen in die Zukunft steuern, die ökologische Veränderungsmuster in der Realität ausblenden.
Viel wichtiger ist es, die realen Grundlagen des Wirtschaftens gut im Blick zu halten, wirtschaftliche Aktivität also nicht nur als Geldwert zu behandeln, sondern zu fragen, was konkret dahinter passiert. Zerstört die Art der Produktion von Nahrung, Kleidung und anderen Versorgungsgütern die Natur irreversibel – oder werden Ökosysteme parallel wieder aufgebaut? Werden Energiekonzerne erfolgreicher, weil sie wieder auf Gas und Öl setzen oder endlich auf Erneuerbare? Es geht um Strukturwandel für die Sicherung des Wohlstands von morgen. Dabei kann auch das BIP wachsen. Dies allein ist aber kein guter Kompass für die Richtungssicherheit.
Das wirtschaftsliberale World Economic Forum hat das in seinem Mitte Januar veröffentlichten Bericht „The Future of Growth“ zusammengefasst. Kernaussage – ähnlich wie im Jahreswirtschaftsbericht: Die Zukunfts- und Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft lässt sich nicht mit einer Wachstumszahl wie dem BIP messen. Deswegen gibt es vier Hauptkategorien, die einen Rahmen bilden, der eine breite Datenbasis versammelt und abbildet. Innovationsfähigkeit, Teilhabe, Nachhaltigkeit und Resilienz. Gecheckt werden für 107 Länder, neben dem BIP, etwa die Menge wissenschaftlicher Veröffentlichungen und beantragter Patente, die Verteilung von Reichtum, Geschlechtergerechtigkeit, Biodiversitätsschäden, aber auch wie demokratisch ein Staat aufgestellt ist.
Wir sehen: Wenn die Debatte auf „immer mehr“ reduziert wird, geraten Qualität und Zukunft aus dem Blick.
Wer tut schon was?
Neben diesen Berichten gibt es immer wieder Vorstöße, Qualität zu fassen – insbesondere auch die Lebensqualität, denn daran sollte sich erfolgreiches Wirtschaften ja eigentlich messen. Seit 2018 gibt es etwa die Wellbeing Economy Alliance (WEAll) – ein Zusammenschluss von 400 Organisationen sowie zahlreichen Netzwerken und Bewegungen. Zudem machen Länder wie Neuseeland, Wales und Schottland mit. Das Konzept dahinter: „Eine Wellbeing-Ökonomie ist eine Wirtschaft, die den Menschen und dem Planeten dient und nicht umgekehrt.“ Das Ziel: 50 wichtige Volkswirtschaften sollen sich gemeinsam und abgestimmt von der aktuellen Art des Wirtschaftens verabschieden – „the old way“ – sowie planetare Grenzen und menschliches Wohlergehen ins Zentrum von Planung, Produktion und Handeln stellen – „new way“. Das WEAll-Kooperationsprojekt Sustainable Prosperity zeigt viele Werkzeuge und Beispiele, wie eine Wellbeing Economy erreicht werden kann.
In Deutschland gibt es bereits eine zentrale Instanz, die genau hinschaut, ob die Politik Geld zielgerecht und sinnvoll mit Blick auf das Gemeinwohl und die Daseinsvorsorge ausgibt: den unabhängigen Bundesrechnungshof (BRH). Er ist den Bundesministerien und dem Kanzleramt „statusgleich“. 900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter prüfen immer nach den Maßstäben „Ordnungsmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit“. Leitfragen und Vorgehen dazu hat 2019 BRH-Präsident Kay Scheller anhand eines passenden Beispiels erklärt: „Wie erfolgreich ist so ein Programm für die Energiewende der Regierung? Werden die Ziele erreicht? Gibt es überhaupt Ziele? Wir rücken also Ziele und Wirkung in den Fokus.“ Was nicht heißt, dass über die Berichte des BRH nicht auch diskutiert werden darf.
Seit Oktober 2018 spielt generell das Thema Nachhaltigkeit eine große Rolle: Die Landesrechnungshöfe der Länder und der des Bundes veröffentlichten gemeinsam die „Bonner Erklärung“. Darin wird betont, wie wichtig das „Engagement“ von Ländern, Bund und Kommunen ist, um die globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) der UN bis 2030 gemeinsam zu erreichen. Weiterhin wird auf den „Zusammenhang zwischen den Zielen für Nachhaltige Entwicklung und guter Regierungsführung sowie guter Verwaltung“ nachdrücklich hingewiesen und darauf, dass „langfristig tragfähige Haushalte der Schlüssel zu nachhaltigen Staatsfinanzen sind“.
Wie ist der nächstmögliche Schritt?
Auf den SDGs basiert auch die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung, aus der wiederum viele der genannten Indikatoren im Jahreswirtschaftsbericht stammen. Die Strategie verdient deutlich mehr Aufmerksamkeit – und Öffentlichkeit. Sie wird seit 2002 kontinuierlich weiterentwickelt und überarbeitet. Der dafür zuständige Rat für Nachhaltige Entwicklung hat erst im Februar wieder konkrete Vorschläge gemacht, weitere Messgrößen aufzunehmen und die sich verschärfenden Krisen von Umwelt, Geopolitik und Demokratie stärker abzubilden. Etwa die Förderung von Kreislaufwirtschaft oder den Abbau umweltschädlicher Subventionen.
Im Dokument finden sich oft Zwischenziele bis 2030, anhand derer wir grundsätzlich überprüfen können, ob wir auf Kurs sind. Stimmt beim Wachstum die Richtung und bei der Wohlstandsmessung das Zielbild, kann sich hinter dem BIP eine Wirtschaft entwickeln, die Wohlstand und Wohlergehen dauerhaft erhält.