Vision einer reifen Diskurskultur

Stefan Schultz
3 min readApr 1, 2024
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Reifer Journalismus fördert eine reifere Diskuskultur — und damit eine reifere Gesellschaft. Eine Vision, wie all das aussehen kann.

Stell dir eine Diskurskultur vor, in der der respektvolle Austausch miteinander als heilige Praxis angesehen wird, um die Gesellschaft voranzubringen.

In der jede Person, die etwas zum Austausch beiträgt, die Demut besitzt, nur dann zu sprechen, wenn er oder sie sich mit etwas wirklich auskennt. Und wenn der eigene Beitrag, so kenntnisreich er auch sein mag, den Austausch in diesem speziellen Moment wirklich voranbringt.

Ein Diskurs, der niemanden ausschließt, sondern jeden explizit einlädt, in jedem Moment in der für ihn oder sie stimmigen Intensität daran teilzunehmen.

Ein Diskurs, der tiefe Resonanzräume für alle Teilnehmenden in all ihrer Verletzlichkeit ermöglicht.

Stell dir eine Diskurskultur vor, deren Ziel ein dialektischer Prozess ist, in dem möglichst viele Perspektiven zusammengedacht werden — auch und gerade scheinbar völlig widersprüchliche.

Ein Diskurs, der nicht zuspitzt und nicht polarisiert, sondern der sich darauf konzentriert, das Hilfreiche beider Pole herauszuarbeiten und als Schwestertugenden miteinander zu vereinen.

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Ein Diskurs, der jeden Teilnehmenden spüren lässt, wie sehr die eigenen Perspektiven in einem größeren Kontext mit den Perspektiven anderer verwoben sind — und wie alles zusammen ein wundervolles, dynamisch fließendes Ökosystem bildet, in dem jede einzelne dieser Perspektiven ihren Platz, Wert und Sinn hat.

Ein Diskurs, der uns durch das Erkennen unserer Verwobenheit milder stimmt. Der uns zeigt, wie konstruiert einzelne Perspektiven, mit denen wir uns identifizieren, sind, weil sie stets nur einzelne Aspekte aus einem großen organischen Gewebe künstlich heraustrennen.

Stell dir eine Diskurskultur vor, in der Menschen ständig und aktiv an sich selbst arbeiten, damit sie sich im Gespräch mit anderen besser selbst regulieren können. Und dadurch besser Unterschiede aushalten.

Eine Kultur, in der sich Menschen permanent selbst hinterfragen, um die Inseln ihrer Borniertheit zu erkunden. In der der Dunning-Kruger-Effekt zum Bildungskanon gehört und in der wir diesen nicht nur bei anderen erkennen, sondern vor allem in uns selbst danach suchen.

Einen Diskursraum, der uns genug Sicherheit spendet, um mit unseren individuellen und kollektiven Schatten in Berührung zu kommen — und uns genau dadurch hilft, starre Gedankenkonstrukte, mit denen wir uns zu stark identifizieren, zu verflüssigen.

Einen Raum, in dem sich Menschen und Meinungen ständig selbst aktualisieren.

Eine Diskurskultur, in der wir das Zuhören kultivieren, statt die anderen Diskursteilnehmenden zu Strohmännern und Stromfrauen unserer eigenen Argumente zu machen.

Eine Kultur, in der Konflikte als transformative Kräfte angesehen werden, deren Energien man bewusst in das Vorankommen des dialektischen Prozesses lenkt — nicht gegen die andere Konfliktpartei.

Eine Diskurskultur, in der die Erkenntnisse, die sie zutage fördert, systematisch festgehalten und schnell und konstruktiv umgesetzt werden. Eben weil ein solcher Diskurs weitreichende politische Entscheidungen und Maßnahmen ermöglicht, die der ganzen Gesellschaft, dem ganzen Leben auf diesem Planeten dienen.

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Jetzt stell dir vor, welche »Rechenpower« eine solche Diskurskultur hätte. Wie schnell und umfassend sie Lösungen hervorbringen kann, selbst für die komplexesten Krisen unserer Zeit.

Wie ein solcher Diskursraum uns ermutigen kann, globale soziale Ungerechtigkeiten zu beheben, die Klimakrise zu lösen oder mächtige neue Technologien wie Künstliche Intelligenz auf eine gesellschafts- und lebensdienliche Weise in unsere Kultur einzubetten.

Mein Modell eines integralen Journalismus will unsere Diskurskultur in genau diese Richtung stupsen. Es möchte Verständnisräume durch balancierten Perspektivenreichtum öffnen. Resonanzräume durch empathisches Berichten. Möglichkeitsräume durch Berichte über inspirierende Lösungsansätze.

Journalismus ist (noch) eine, wenn nicht die prägende Kraft unserer Diskurskultur. Journalismus produziert viele Inhalte, die in die Infosphäre fließen und von dort in die Köpfe und Herzen vieler Menschen. Und Journalismus hat eine Vorbildfunktion dafür, auf welche Art und Weise wir diese Inhalte miteinander austauschen.

Kurz gesagt prägt Journalismus sowohl die Qualität der Informationen, die wir als Gesellschaften zur Verfügung haben, als auch die Qualität des Diskurses über diese Informationen.

Meine Vision ist, dass wir Journalistinnen und Journalisten es als unsere vornehmste Aufgabe ansehen, eine dafür förderliche Diskurskultur bestmöglich mitzuerschaffen.

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